15.11.2013

VDI Nachrichten – Personalisierte Krebsabwehr in 10 Jahren

Die personalsierte Medizin steht im Mittelpunkt der diesjährigen Medica, der weltgrößten Medizinmesse, die vom 20. bis 23. November in Düsseldorf stattfindet. In Hamburg sind die Ziele bereits hoch gesteckt. Die individualisierte Krebstherapie haben sich die Firma Indivumed und ihre Tochter Indivutest auf die Fahne geschrieben. Plakativ ausgedrückt will man dort den Krebs besiegen – mit einer für jeden einzelnen Patienten maßgeschneiderten Diagnostik und Therapie.

Gewebepräparate sind unverzichtbar für eine erfolgreiche Suche nach geeigneten Medikamenten gegen Krebserkrankungen. Denn nicht jedes Arzneimittel wirkt bei jedem Patient gleich gut. "Jeder Tumor sieht anders aus, deshalb ist die personalisierte Medizin in der Onkologie besonders sinnvoll", betont Hartmut Juhl. Der gelernte Chirurg ist heute geschäftsführender Gesellschafter beider Hamburger Unternehmen. Bei Indivutest werden Verfahren zur wissenschaftlichen Krebsuntersuchung angewandt, die bisher ausschließlich in der Forschung genutzt werden. Dazu muss bereits die Gewinnung der Krebsgewebeproben unter wissenschaftlicher Kontrolle erfolgen, was im Routineablauf eines Krankenhauses kaum zu gewährleisten ist. Ein wichtiger Faktor für die exakte Analyse von Gewebe ist das unmittelbare Einfrieren nach der Entnahme durch chirurgischen Eingriff oder Biopsie in flüssigem Stickstoff bei -180 °C. "Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass sich die biologischen Vorgänge in Krebszellen innerhalb weniger Minuten so verändern, dass die relevanten Angriffspunkte für neue Wirkstoffe nicht mehr zuverlässig bestimmbar sind", begründet Juhl die Eile.

Bei der nachfolgenden Gewebeanalytik werden drei Untersuchungsmethoden kombiniert, um ein möglichst umfassendes Bild der individuellen Tumorbiologie und möglicher Therapieansätze zu gewinnen: Sequenzierung der Tumor-DNA (sogenannte Next-Generation-Sequencing), Nachweis bestimmter Angriffspunkte mithilfe automatischer Gewebefärbeverfahren (Immunhistochemie) und Nachweis der Aktivität von Eiweißmolekülen, die für die Regulation des Krebswachstums von Bedeutung sind (Phosphoprotein-Analyse).

„Wir verfügen über mehr als 50 zu‧gelassene, onkologische Präparate, 800 weitere sind in der klinischen Entwicklung. Damit nehmen unsere Möglichkeiten deutlich zu, den Krebs gezielt anzugreifen." Hartmut Juhl, Geschäftsführender Gesellschafter von Indivumed und Indivutest.
Quelle: Indivumed

Die Sequenzierung dient der Bestimmung krebsrelevanter Veränderungen in der DNA, die ursächlich für das Krebsgeschehen verantwortlich sind und zugleich einen Hinweis auf die Wirksamkeit von Medikamenten geben. Die Kombination der drei Methoden ermöglicht es, auch nach Arzneimitteln zu suchen, die für die spezielle Erkrankung wie zum Beispiel Brust-, Lungen- oder Darmkrebs normalerweise nicht in Erwägung gezogen werden. Unter Umständen können auch Wirkstoffe weggelassen werden, die üblicherweise zum Einsatz kommen, deren Angriffspunkt aber nicht nachgewiesen werden kann. Dadurch lassen sich Nebenwirkungen verringern. "Wir verfügen bereits über mehr als 50 zugelassene, onkologische Präparate, mehr als 800 weitere sind bereits in der klinischen Entwicklung. Damit nehmen unsere Möglichkeiten deutlich zu, gezielt den Krebs anzugreifen", betont Juhl.

Angesichts der Tatsache, dass derzeit jährlich rund 213 000 Todesfälle in Deutschland durch Krebs verursacht werden und die Kosten der Krebstherapien ohne Heilung das Gesundheitssystem mit 11,7 Mrd. € belasten, ist das ohne Frage dringlich. Deshalb gibt es auch einen weitgehenden Konsens aller Beteiligten, also von Pharmaindustrie, Regulierungsbehörden, Kostenträgern, Krankenhäusern und Patienten, dass die individualisierte Krebstherapie kommen muss und kommen wird.

Im Mittelpunkt der Argumente dafür stehen Kostensenkungen, eine höhere Wirksamkeit und Erhöhung der Lebensqualität durch gezielte Therapien sowie das Vermeiden unsinniger Behandlungen. So ist beispielsweise die Nutzung prädiktiver Marker in der Pharmaentwicklung aus ökonomischen Gründen für die Industrie existenziell, weil die Kosten pro Medikament inzwischen umgerechnet rund 670 Mio. € erreicht haben, 90 % der Wirkstoffe aber in der letzten Phase der klinischen Studien versagen, wenn ein Großteil des Geldes bereits ausgegeben ist.

Mit dem größeren Wissen um Krebs, das in den zurückliegenden Jahren enorm gewachsen ist, lässt sich die Komplexität des individuellen Krebses im Hinblick auf verfügbare Wirkstoffe deutlich besser verstehen. Heute stehen potenzielle Angriffspunkte sowohl auf der Zelloberfläche als auch in der Zellregulation zur Verfügung. DNA-Veränderungen sind als kausale Ursache für Zellveränderungen erkannt und generieren wiederum Angriffspunkte. Der Nachweis von Tumor-DNA ist sogar im Blut möglich und eröffnet so eine Therapieüberwachung.

Um die personalisierte Medizin weiter voranzubringen, arbeitet Indivumed mit klinischen Partnern wie dem Georgetown University Medical Center oder dem Washington Hospital Center und mit akademischen Partnern wie der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf, der John Hopkins und der Stanford University sowie dem amerikanischen National Cancer Institute zusammen. Ein Schritt ist der Aufbau einer gemeinsamen Datenbank mit Gewebeproben von Krebspatienten. Fünf bis zehn Jahre dürfte es noch dauern, bis die individualisierte Krebstherapie für jedermann verfügbar ist. Bis dahin könnten die Kosten von 5000 € für jede detaillierte Untersuchung auch von den Krankenkassen getragen werden.

Noch allerdings klagt Juhl über die "unendliche Trägheit der Systeme". Im Moment heißt das nicht nur, dass Überregulation viele Innovationen hemmt, sondern auch, dass jeder Patient das Geld selbst aufbringen muss. KLAUS JOPP